Auswandern? Nö, nur zuschauen!
Auswandern? Nö, nur zuschauen!

Auswandern? Nö, nur zuschauen!

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Die meisten Abende verbringen wir Schnuten ja gemeinsam, und dabei lassen wir uns gerne auch von der Glotze – oder einem Streamingdienst – unterhalten. Viele Sendungen oder Serien mögen wir beide, es gibt aber auch Programme, da guckt der eine halt mit, weil es der andere gerne mag. So schaut Benedikt hin und wieder tatsächlich mal mit mir zusammen ein Fußballspiel an, und ich gucke mit ihm zusammen die “Auswanderer”.

Offiziell heißt die Reihe “Goodbye Deutschland”, läuft seit über 15 Jahren auf VOX, und kann sich nicht so recht entscheiden, ob sie nun eine Doku (zu seicht, zu gescripted) oder doch Trash-TV (meist eher unfreiwillig trashig) sein will. Angekündigt ist sie als Doku-Soap, ist aber letztlich auch egal. Wie man schon ahnt werden dort Menschen bei ihrer Auswanderung filmisch begleitet, mal über ein paar Wochen, mitunter sogar über Jahre. Die klassischen Dödel von früher – komplett branchenfremder, leicht unterbelichteter Hobbykoch, der am Arsch der Welt ohne jegliche Sprachkenntnisse und mit nem knappen Kilo Rücklagen eine, bislang nur auf Fotos gesehene, Bruchbude gekauft hat und dort, weit abseits sämtlicher Tourismuspfade, ein Restaurant eröffnen will – gibt es mittlerweile nur noch selten, mitunter sind es sogar ganz interessante, häufig erfolgreiche Geschichten. Einige Protagonisten sehen die Probleme einer Auswanderung erstaunlich realistisch, bei anderen – “wir eröffnen ein Restaurant auf Malle, weil wir es endlich mal ein wenig ruhiger angehen lassen wollen” – bewundern wir fast schon ein wenig deren Realitätsferne.

Ein wenig nervig an der Sendung sind die ständigen Wiederholungen bei den Kommentaren – ja, der Zuschauer hat mittlerweile die Aufmerksamkeitsspanne einer Fruchtfliege, ja, man soll sich auch zurechtfinden, wenn man mittendrin ins Programm zappt – und die permanenten Fragen à la “wird es Gerd-Rüdiger wirklich gelingen, rechtzeitig die neue Dunstabzugshaube zu installieren?” (Spoiler: In den meisten Fällen nicht). Aber geschenkt, es ist halt eine typische Sendung, bei der man problemlos nebenher die gesamten Timelines sämtlicher sozialer Netzwerke durchlesen kann, ohne Relevantes zu verpassen. 😉

Häufig haben sich die Protagonisten der Dokus – und vermutlich genug andere Auswandernde – im Urlaub in ein Land verliebt und möchten dort dauerhaft leben. Weil es dort so schön ist. Und immer sonnig. Und das Lebensgefühl so ganz anders. Die Menschen dort sind so freundlich. Und viel entspannter.
Und dann sind sie vor Ort, nehmen ihr neues Restaurant (oder was auch immer) in Besitz und stellen ganz überrascht fest, dass es im Arbeitsalltag ja gar nicht mehr so entspannt ist. Ach was. Wenn der Handwerker eben nicht zum verabredeten Zeitpunkt auf der Matte steht, sondern erst drei Stunden später oder gar am übernächsten Tag, ist der vorher so gelobte, entspannte Lebensstil plötzlich sehr nervig. Und wenn man eben nicht mehr der urlaubende, Geld bringende Tourist ist sondern der Konkurrent, der den Einheimischen die Gäste – und somit auch die lebensnotwendigen Einnahmen – streitig macht, sind eben jene Einheimischen vielleicht gar nicht mehr sooo freundlich. Den Kleinkrieg mit den örtlichen Behörden – der meist noch weitaus schlimmer ist als hierzulande – hat man natürlich komplett unterschätzt, die Sprachprobleme oder die völlig anderen Gepflogenheiten im Alltag sowieso. Und irgendwann dämmert es auch dem Letzten, dass der Vorsatz, alles “deutlich ruhiger angehen zu lassen” vielleicht auch etwas utopisch war…

Wobei es – wie oben erwähnt – auch durchaus Protagonisten gibt, die deutlich realistischer und planvoller an die Sache rangehen, mitunter auch mit Zielen abseits des klassischen Malle und somit meist wesentlich interessanter.

Natürlich geben wir regelmäßig unseren Senf zu den Situationen ab, schütteln – sehr häufig – kollektiv den Kopf, nicken aber auch anerkennend, wenn jemand – sei es durch viel Glück oder Standhaftigkeit – seinen Traum verwirklichen kann. Und natürlich überlegt man sich dann hin und wieder, ob man selbst für eine solche Auswanderung zu haben wäre.

Vor ein paar Jahrzehnten war das für mich tatsächlich mal ein Thema. Ich habe mich mit einigen Gegenden dieser Erde ausführlich auseinandergesetzt, aber relativ schnell war klar, wenn auswandern, dann nur innerhalb Europas. Eine Zeitlang hatte ich eine Auswanderung in mein westliches Lieblingsland sogar intensiv durchgespielt, inklusive Sprachkurs, aber bevor das Ganze dann ernsthaft zur Umsetzung kam, änderten sich die persönlichem Umstände recht massiv. Das war dann auch okay so, und ich habe nicht das Gefühl, etwas nachtrauern zu müssen.

Und heute? Eine komplette Auswanderung könnte ich mir derzeit für mich nicht vorstellen, allein schon aus klimatischen Gründen: Mindestens eine Jahreshälfte ist entweder unerträglich heiß oder kalt. Generell reizt mich derzeit aber auch kein Land so sehr, dass ich mich ernsthaft damit auseinandersetzen würde. Vielleicht weiß man im fortgeschrittenen Alter auch eher die Vorteile zu schätzen, die man in heimischen Gefilden hat – wobei mir vor allem die Zukunft des (im Vergleich zu anderen Ländern noch gelobten) Gesundheitswesens und der Pflege durchaus Sorge bereiten.

Eine “saisonale Auswanderung” könnte ich mir da schon eher vorstellen: Den Winter in deutlich wärmeren Gefilden zu verbringen wäre wirklich ganz nett, wobei mich – im Gegensatz zu Benedikt – dann eher der Süden Italiens als Spanien reizen würde. Das wäre aber auch nur dann ein ernsthaftes Thema, wenn die notwendigen, sprich finanziellen Voraussetzungen gegeben wären. Zum Beispiel mit einem Job, der eine entspannte “Work-Life-Balance” ermöglicht. Oder mit ausreichender Rente. Oder einem geknackten Jackpot. Oder einem anderen, ähnlich unrealistischen Szenario. Und ob ich trotz deutlich angenehmerer Temperaturen alleine in einem anderen Land länger als zwei, drei Wochen wirklich glücklich wäre? Mit einer fremden Sprache, die ich für Alltagsgespräche vielleicht noch recht schnell erlernen könnte, aber wohl niemals in ihren Feinheiten beherrschen würde? Mit den Freunden, die dann noch ein paar tausend Kilometer weiter entfernt wären?

Ich ziehe den Hut vor jedem, der seinen Traum von der Auswanderung verwirklicht. Bei mir bleibt’s dann eher beim Konsum von entsprechenden Blogs, Videos (derzeit verstärkt zum Thema USA, einem Land, in dem ich wohl noch nicht mal urlauben würde), oder eben bei dieser Doku-Soap. Und das ist auch vollkommen ausreichend. 😉

Foto 2 vom ausgewanderten Matthias; Fotos 1, 4 und Headergrafik von der im Prinzip ja auch ausgewanderten Ulla; vielen Dank euch beiden! Foto 3 aus der eigenen Mottenkiste.